ForschungswerkstattDer Andere und das Fremde

Netz beziehungsweise Teppich mit einem großen Loch in der Mitte.
Die Veranstaltung fand Anfang Juni am Studienort Münster statt

Anfang Juni fand am Studienort Münster eine transdisziplinäre Forschungswerkstatt zum Thema „Der Andere und das Fremde – eine Frage der Haltung? Grundelemente der verwaltungsethischen und polizeilichen Aufmerksamkeit“ statt

Am 6. und 7. Juni 2023 wurde am Studienort Münster der HSPV NRW erstmalig das neue Format einer transdisziplinären „Forschungswerkstatt“ in Kooperation mit dem Netzwerk „Weltoffene Hochschulen“ (WoH) realisiert. Für diesen ersten Teil eines vom Institut für Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung (IGE) geförderten Projekts innerhalb einer für drei Studienjahre geplanten Veranstaltungsreihe mit der Thematik „Der Andere und das Fremde – eine Frage der Haltung? Grundelemente der verwaltungsethischen und polizeilichen Aufmerksamkeit“ kamen Fachphilosophinnen und -philosophen, Vertreterinnen und Vertreter der Polizei sowie Studierende der HSPV NRW aus dem Bereich AV/R zusammen.

Ausgangspunkt der Werkstatt war die Überlegung, dass unsere Lebenswirklichkeit und insbesondere der berufliche Alltag von Polizei und Verwaltung maßgeblich durch den Umgang mit anderen oder fremden Personen geprägt ist, deren Anders- oder auch Fremdheit sich keineswegs auf den eigenen Erfahrungshorizont reduzieren und vom sicheren Standpunkt des Vertrauten her angehen lässt. Denn zur mehrdeutigen Erfahrung und vielgestaltigen Herausforderung des Anderen und Fremden gehört immer auch ein Fremdwerden der eigenen Erfahrung, das sich uns im Erfahren und Handeln selbst entzieht. Aus dieser Grundspannung zwischen dem Selbst und dem Anderen, dem Eigenen und dem Fremden, ergeben sich weitreichende Konsequenzen, die in der Forschungswerkstatt gemeinsam ausgelotet und reflektiert worden sind. Dabei geht es nicht nur um das gesellschaftliche Miteinander im Allgemeinen, sondern auch um das ethisch zu reflektierende Handeln von Polizei und Verwaltung im Besonderen.

Im Mittelpunkt stand daher die Frage nach der Bedeutung und dem Umgang mit dem Anderen und Fremden sowie nach der eigenen Haltung dazu, nicht nur in der Ausbildung und im Studium der Polizei und der öffentlichen Verwaltung. Wie können oder sollen wir dem Anderen oder Fremden im alltäglichen und beruflichen Miteinander begegnen? Zwischen dem Grundbedürfnis einer probaten Anleitung bei der gleichzeitigen Einsicht, dass es eine solche für menschliches Zusammenleben nicht geben kann, war schon nach einer ersten gemeinsamen Befragung und interaktiven Übung deutlich, dass genau diese Begegnung selbst, der Austausch und Kontakt, der entscheidende Punkt ist, um eigene Vorurteile zu bemerken und sich gleichzeitig vom Anderen oder vom Fremden auch überraschen zu lassen, der vielleicht erstaunlich ähnlich oder ganz anders als erwartet denkt und „tickt“.

Flipchart mit verschiedenen Karten.
Wünsche und Erwartungen der Teilnehmenden

Den großen grundsätzlichen Fragen nach dem Anderen, dem Fremden und unserer Haltung dazu, ist bei der Auftaktveranstaltung in Form von vier Impulsbeiträgen mit anschließenden Diskussionsrunden gemeinsam nachgegangen worden, um im transdisziplinären Dialog konkrete praktische Umsetzungsmöglichkeiten einer Aufmerksamkeit und Sensibilisierung für das Fremde in Lehre, Studium und Praxis zu identifizieren. Der erste Vortrag von Till Heller (Wuppertal/Grenoble) zum Thema „Der Stachel des Fremden – Fremdheit und Selbstheit in phänomenologischer Sicht“ führte die Teilnehmenden aus philosophischer Perspektive in die methodologischen und inhaltlichen Grundmotive einer responsiven „Phänomenologie des Fremden“ (Waldenfels 2016) ein. Den Hauptakzent auf die konkrete Fremderfahrung eines leiblichen Selbst legend, warf er insbesondere die Fragen auf, inwiefern man dem Phänomen des Fremden als Fremden überhaupt gerecht werden kann und ob das unfassliche und irritierende Fremde erst beim Anderen, oder nicht vielmehr bereits bei uns selbst anfängt.

Prof. Dr. Frauke A. Kurbacher (Münster/Berlin) näherte sich dem Thema der Werkstatt von einem eigenständigen haltungsphilosophischen Ansatz (Kurbacher 2017) her, der das Fremde in einem konstitutiven „Zwischen“ verortet, das in der interpersonalen Begegnung aufscheint und die beteiligten Personen zur kritischen Selbstreflexion einlädt.

Vanessa Ossino (Köln/Freiburg) gab in ihrem eindringlichen Vortrag anschließend einen vertieften Einblick in die immer auch gesellschaftlich normierten und machtgesättigten Verstrickungen unserer alltäglichen Wahrnehmung, indem sie das Erscheinen von Menschen in sozialen Situationen an Hand von konkreten Beispielen (etwa „Racial Profiling“) und unter Einbeziehung der Critical Phenomenology (Guenther 2019) beleuchtete.

Eine junge Frau sitzt an einem Tisch mit einem Laptop, im HIntergrund ist eine PowerPointPräsentation an der Wand zu sehen.
Vanessa Ossino während ihres Impulsbeitrags

Im letzten Impulsbeitrag erörterte Eric Eggert (Köln) das seit dem Aufkommen moderner Administrationen und Massengesellschaften aktuelle Thema „Institutionelle Kälte“ anhand einer kritisch-philosophischen Auslegung von Kafkas berühmter Parabel „Vor dem Gesetz“, die auch politische Dimensionen der Thematik mit einbezog.

Im Hinblick auf die polizeiliche und verwaltungsethische Praxis sind dabei vornehmlich drei elementare Aspekte zeitgenössischer Philosophie und Haltungsforschung thematisiert worden: Der Dreiklang von Andersheit, Fremdheit und Selbstheit, die im praktischen Lebensvollzug und in der alltäglichen Berufswelt durch unsere Wahrnehmung schon miteinander verschränkt sind und ohne die heute keine zeitgemäße Handlungstheorie mehr auskommt, die sich als ethisch verantwortlich versteht. Wiederholt wurde dabei auch auf die diskursiven und gesellschaftlichen Machtstrukturen sowie auf die damit verbundenen Ausschlussmechanismen hingewiesen, die unser Leben und Erleben in Alltag und Beruf entscheidend prägen. Die Diskussion konnte neben dem zentralen Moment konkreter Begegnung insbesondere noch das Ästhetische als mögliche Vermittlung zwischen Theorie und Praxis stark machen.

So gelang gemeinsam ein vielversprechender Auftakt der vom Institut für Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung (IGE) geförderten und in Kooperation mit dem Netzwerk „Weltoffene Hochschulen“ (WoH) sowie dem Internationalen interdisziplinären Arbeitskreis für philosophische Reflexion (IiAphR) stattfindenden Veranstaltung, die in den kommenden Studienjahren fortgesetzt wird. Die Anschlussveranstaltung ist für das Sommerhalbjahr 2024 geplant und steht wieder allen Interessierten offen. Die Forschungswerkstatt richtet sich an Studierende aller Hochschulen und Universitäten, Lehrende, Forschende, Mitarbeiter/innen der Verwaltung, Berufsanfänger/innen, aber auch an gestandene Vertreterinnen und Vertreter aus der polizeilichen oder behördlichen Praxis.

 

Till Heller
Universität zu Köln, Bergische Universität Wuppertal/Université Grenoble Alpes (Frankreich)

Prof. Dr. Frauke A. Kurbacher
HSPV NRW, Abteilung Münster

Vanessa Ossino
a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne, Universität zu Köln/Universität Freiburg (Schweiz)

Eric Eggert
Universität zu Köln, Bergische Universität Wuppertal

  • Lisa Guenther: Seeing like a cop: A critical phenomenology of Whiteness as property. In: Emily S. Lee (Hg.): Race as Phenomena: Between Phenomenology and Philosophy of Race. Washington D.C. 2019. S. 189 – 206.
  • Henrike Kohpeiß: Bürgerliche Kälte. Affekt und koloniale Subjektivität. Frankfurt a. M. 2023.
  • Frauke A. Kurbacher: Zwischen Personen. Eine Philosophie der Haltung. Würzburg 2017.
  • Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 5. Aufl. Frankfurt a. M. 2016.